Im Herbst wird uns eine
neue Welle der Religionskritik überschwemmen. Mit Richard Dawkins’ Buch „Der
Gotteswahn“, Sam Harris’ „Das Ende des Glaubens“ und Christopher Hitchens’ „Der
Herr ist kein Hirte“ stehen uns gleich drei rigorose Angriffe auf den Glauben
ins Haus. Argumentativ bei weitem nicht so gut wie Norbert Hoersters „Die Frage
nach Gott“, werden diese Bücher doch zweifellos ein weit breiteres Publikum
erreichen. Vor allem aber werden sie die Debatte zur Religionskritik weg von rein
theoretischen und hin zu eher praktischen Fragen lenken: Haben die Religionen
dieser Welt alles in allem mehr Gutes oder Schlechtes bewirkt? Sind die
Konflikte in Nordirland, Israel, Indien und anderswo nun religiös oder politisch
motiviert? Ist die Religion wirklich die einzig verlässliche Grundlage unserer
Moral? Haben religiöse Gefühle einen Anspruch darauf, nicht verletzt zu werden?
Und wo genau liegen eigentlich die Grenzen der freien Religionsausübung?
Einen der Einwände, den
sich Dawkins & Co. immer wieder anhören müssen, ist der, dass die
Religionskritik eine vergebliche Liebesmüh sei. Die Menschen hätten nun einmal ein
angeborenes „metaphysisches Bedürfnis“, das nur durch die Religion zu
befriedigen sei. Die neuen Aufklärer gäben sich daher auch einer bloßen Illusion
hin, wenn sie allen Ernstes meinten, dass sich die Zahl der religiösen Menschen
in nennenswertem Umfange reduzieren ließe. Doch ist die Kritik an der Religion
tatsächlich eine reine Donquichotterie? Ist gegen den Glauben anzukämpfen
genauso töricht wie gegen Windmühlen anzurennen? Ich glaube nicht. Ich denke, das
Beispiel der ehemaligen DDR zeigt sehr schön, dass es kein angeborenes metaphysisches
Bedürfnis gibt und eine religionskritische Erziehung durchaus fruchten kann.
Nahezu allein durch die Verbannung des Religionsunterrichts aus den Schulen ist
es dem DDR-Regime gelungen, die Zahl der Kirchenmitglieder von über 90 Prozent
im Jahr 1949 auf unter 30 Prozent im Jahr 1989 zu senken. Trotz der deutschen
Wiedervereinigung, der Rückkehr des Religionsunterrichts an die Schulen und enormer
Anstrengungen einer Re-Christianisierung weigern sich die Brüder und Schwestern
im Osten nach wie vor standhaft, in den Schoß der alleinseligmachenden Kirche zurückzukehren.
Nun ist die Zahl, die
nominell der evangelischen oder katholischen Kirche angehören, natürlich nicht sonderlich
aussagekräftig. Schließlich kann man auch religiös sein, ohne offiziell einer
Kirche anzugehören. Doch wie uns spätestens die 1998 vom Mannheimer Zentrum für
Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA) durchgeführte Internationale
Sozialwissenschaftliche Umfrage zum Thema Religion gezeigt haben sollte, sind
die konfessionslosen Ossis keineswegs verlorene Schafe, die ihr Heil außerhalb
der Kirche suchen, sondern tatsächlich beinharte Atheisten. In der besagten
Umfrage ist 40.000 Menschen aus 40 Nationen die „Gretchenfrage“ gestellt worden
– darunter Amerikanern, Briten, Franzosen, Italienern, Russen, Australiern,
Holländern und Deutschen. Die Ergebnisse zeigten deutlich, dass die Ossis
tatsächlich das gottloseste Volk auf Erden sind.
Während nur 8,2 Prozent
der Amerikaner, 12,4 Prozent der Italiener, 31,7 Prozent der Briten, 37,8 Prozent
der Westdeutschen und immerhin 48,2 Prozent der Franzosen nicht an Gott glaubten,
bezeichneten sich ganze 74,2 Prozent der Ostdeutschen als Atheisten. Umgekehrt
sagten 85,6 Prozent der Amerikaner, 83,3 Prozent der Italiener, 62,5 Prozent
der Briten, 51,7 Prozent der Westdeutschen, 40,4 Prozent der Franzosen, aber
nur 18.5 Prozent der Ostddeutschen, dass sie „an Gott glauben und immer an ihn
geglaubt haben“.
Auf die Frage, ob es „ein
Leben nach dem Tode“ gibt, antworteten 80,5 Prozent der Amerikaner, 72,6
Prozent der Italiener, 59,4 Prozent der Briten, 55,1 Prozent der Westdeutschen,
50,7 Prozent der Franzosen und lediglich 14,9 Prozent der Ostdeutschen mit „ja“.
Trotz ihres Zweifels an Gott, an einer unsterblichen Seele und einem Leben nach
dem Tode betrachteten die Ossis ihr Leben jedoch keineswegs als sinnlos. So
widersprachen der Behauptung, dass das Leben keinen Sinn habe, beispielsweise
nur 76,1 Prozent der Westdeutschen, aber 86,3 Prozent der Ostdeutschen.
Wer meint, dass uns die
Religiosität gewissermaßen in die Wiege gelegt worden ist, wird vielleicht mutmaßen,
dass die Ostdeutschen dafür abergläubischer seien als die Westdeutschen. Doch
weit gefehlt! Die Ossis glauben weniger an Horoskope, Glücksbringer, Wahrsager
und Wunderheiler als die Wessis. Während in den alten Bundesländern beispielsweise
9 Prozent auf die Astrologie schwören, sind es in den neuen Bundesländern nur 4
Prozent. Zudem sind die Ostdeutschen auch weit weniger wissenschaftsfeindlich
als die Westdeutschen. Während im Westen 21,5 Prozent der Ansicht sind, dass
wir „zu viel Vertrauen in die Wissenschaft und zu wenig in den religiösen
Glauben setzen“, sind es im Osten nur 11.9 Prozent, die dieser Aussage
beipflichten.
Im Westen sagt man gern,
dass der Osten mit dem Kommunismus eine „Ersatzreligion“ gehabt habe, in der
Marx zu Gott, das Kommunistische Manifest zur Bibel und der Kreml zum Vatikan
erhoben wurden. Doch davon kann überhaupt keine Rede sein. Abgesehen von einer
durchaus überschaubaren Zahl von Apparatschniks – von den knapp 2,3 Millionen
SED-Mitgliedern dürften gut die Hälfte bloße Opportunisten gewesen sein, die
sich unmittelbar nach dem Fall der Mauer auch als „Wendehälse“ entpuppten – waren
die Ossis keine „gläubigen Kommunisten“. Sie wussten sehr wohl, dass sie in
einer stalinistischen Diktatur leben, in der ihre Menschenrechte beschnitten
und ihr Selbstbestimmungsrecht missachtet werden. In 26 Jahren DDR bin ich
persönlich niemandem begegnet, der die „Aktuelle Kamera“ der „Tagesschau“ vorgezogen
hätte. Allein die bedauernswerten Bewohner der Oberlausitz, dem „Tal der
Ahnungslosen“, mussten mit dem „Schwarzen Kanal“ vorlieb nehmen und auf
„Kennzeichen D“ verzichten.
Angesichts des weit
verbreiteten und anhaltenden Atheismus in der DDR lässt sich nur schwer an ein
„metaphysisches Bedürfnis“ der Menschen glauben, das schier unausrottbar ist. Da
niemand das Experiment des „real existierenden Sozialismus“ wiederholen wollte,
stellt sich die Frage, ob der Religionskritik im Westen jemals ähnliche Erfolge
beschieden sein könnten wie im Osten. Ich selbst bin zuversichtlich. Doch ich
glaube, dass die Religionskritik nur einer von vier Faktoren ist, der die zunehmende
Abkehr vom Glauben befördern wird. Die Bildung, die Kirche und die Theologie
werden meines Erachtens das ihre dazu beitragen.
Der enorme Einfluss der
Bildung, der möglicherweise hauptverantwortlich für den Schwund der Religiosität
in Westeuropa ist, lässt sich vielleicht an keinem anderen Beispiel so gut
demonstrieren wie an dem der USA. Während in der herkömmlichen Bevölkerung etwa
92 Prozent an Gott glauben und nur 8 Prozent Atheisten sind, ist es in der intellektuellen
Elite, der Amerikanischen Akademie der Wissenschaften, genau umgekehrt: Unter
den führenden US-Wissenschaftlern glauben nur 8 Prozent an Gott und 92 Prozent
sind Atheisten.
In seinem 1927
erschienenen Buch „Die Zukunft einer Illusion“ schrieb Sigmund Freud, dass die
Religion drei Funktionen habe – sie soll die Welt erklären, moralische
Orientierung bieten und seelischen Trost spenden. Nachdem die Religion die
Funktion der Welterklärung längst an die Wissenschaft abgetreten hat, bleiben
nur noch die Funktion der Moral und der Hoffnung. Doch um beide ist es mittlerweile
eher schlecht bestellt. Moralisch fühlen sich zunehmend weniger in der Religion
aufgehoben. Während die katholische Kirche mit ihren rigorosen Positionen mehr
und mehr Menschen vor den Kopf stößt, scheint die evangelische Kirche mit ihren
liberalen Positionen mehr und mehr Menschen zu entfremden. Wenn die Kirchen zu so
grundlegenden Fragen wie der Empfängnisverhütung, dem Schwangerschaftsabbruch, der
Sterbehilfe oder der Homosexualität keine einheitlichen Antworten mehr bieten,
werden die Gläubigen, die sich moralische Orientierung von ihren Geistlichen
versprochen hatten, zwangsläufig zu dem Schluss gelangen, dass sie sich genauso
gut an die säkulare Ethik wie an die religiöse Ethik wenden können.
Ähnlich armselig ist es um
den seelischen Trost bestellt. Nachdem evangelische Theologen wie Rudolf
Bultmann und Dorothee Sölle es vorgemacht haben, folgen nun auch katholische
Theologen wie Hans Küng und Eugen Drewermann der bewährten Defensivtaktik, die
Religion auszuhöhlen und den Gottesbegriff bis zur Unkenntlichkeit zu
entstellen. So beschreibt Küng Gott etwa als „absolutes-relatives, diesseitiges-jenseitiges,
transzendentes-immanentes“ Wesen, das „durch keinen Begriff zu begreifen, durch
keine Aussage auszusagen und durch keine Definition zu definieren“ ist. Angesichts
solch leerer Worthülsen werden sich schon bald mehr und mehr Christen besorgt
fragen: „Was zum Teufel habe ich von einem Gott, der existent-inexistent ist? Ist
ein solcher Gott nicht genauso gut wie gar kein Gott?“ Vor genau diesem
Hintergrund mag dem „neuen Kreuzzug der Atheisten“, wie Der Spiegel ihn unlängst süffisant nannte, langfristig durchaus ein
Sieg beschieden sein.