Dienstag, 20. September 2016

Die Kunst, glücklich zu sein




Auf den ersten Blick mag es verblüffen, dass Arthur Schopenhauer, dessen Name zu einem Synonym für Pessimismus geworden ist, eine „Eudämonologie oder Die Kunst, glücklich zu sein“ geschrieben hat. Wie kann ein Mann, der das Leben als eine Sache betrachtet, „die es besser ist hinter sich, als vor sich zu haben“, eine Anleitung zum Glücklichsein verfassen?

Schopenhauers Ansicht nach ist „in der Welt überall nicht viel zu holen: Noth und Schmerz erfüllen sie, und auf Die, welche diesen entronnen sind, lauert in allen Winkeln die Langeweile. Zudem hat in der Regel die Schlechtigkeit die Herrschaft darin und die Thorheit das große Wort. Das Schicksal ist grausam und die Menschen sind erbärmlich.“

Ist es nicht paradox, dass ein Mann, der diese Welt für ein Jammertal hält, seine Zeit damit vergeudet, eine Kunst zu lehren, die seinem eigenen Eingeständnis nach, nie zum Ziele führen kann?

Das vermeintliche Paradoxon löst sich schnell auf, sobald man einen genaueren Blick auf sein Buch wirft. Dann kann man nämlich erkennen, dass es Schopenhauer auch gar nicht darum zu tun war, eine Anleitung zu geben, wie man sein Glück mehren könne, sondern vielmehr eine Anleitung, wie man sein Unglück verringern könne. Sein Buch besteht lediglich aus Maximen, die es uns ermöglichen sollen, „den Pfeil und Schleudern des wütenden Geschicks“ so weit als irgend möglich zu entgehen. Statt des Titels „Die Kunst, glücklich zu sein“, hätte sein Buch daher auch genauso gut den Titel „Die Kunst, nicht allzu unglücklich zu sein“ tragen können. 



Nach Schopenhauer sind wir alle in Arkadien geboren: „Wir treten in die Welt voll Ansprüche auf Glück und Genuß und bewahren die thörichte Hoffnung, solche durchzusetzen, bis das Schicksal uns unsanft packt und uns zeigt, daß nichts unser ist, sondern alles sein, da es ein unbestreitbares Recht hat nicht nur auf allen unsern Besitz und Erwerb, sondern auf Arm und Bein, Auge und Ohr, ja auf die Nase mitten im Gesicht.“ Erst wenn wir erkennen, dass unser Streben nach Glück „einer Jagd nach einem Wilde gleicht, das gar nicht existiert“, hören wir auf, Glück und Genuß zu suchen, und sind allein darauf bedacht, dem Schmerz und Leiden möglichst zu entgehen“.

Die erste Lektion, die Schopenhauer seinem Publikum erteilt, lautet denn auch: „Um nicht sehr unglücklich zu werden, ist das sicherste Mittel, daß man nicht sehr glücklich zu werden verlange, also seine Ansprüche auf Genuß, Besitz, Rang, Ehre u.s.f. auf ein ganz Mäßiges herabsetze: denn eben das Streben und Ringen nach Glück zieht die großen Unglücksfälle herbei.“

Die zweite Lektion, die wir in unserem Leben zu lernen haben, ist, uns selbst zu erkennen. „Ein Mensch muß wissen, was er will, und wissen, was er kann.“ Solange jemand sich selbst nicht kennt und über seine eigenen Vorlieben und Abneigungen im unklaren ist, wird er nämlich „manchen um eine Lage und Verhältnisse beneiden, die doch nur dessen Charakter, nicht dem seinigen, angemessen sind, und in denen er sich unglücklich fühlen würde. Denn wie dem Fische nur im Wasser, dem Vogel nur in der Luft, dem Maulwurf nur unter der Erde wohl ist, so jedem Menschen nur in der ihm angemessenen Atmosphäre; wie denn zum Beispiel die Hofluft nicht jedem respirabel ist.“

Erst wenn man mit seinen eigenen Stärken und Schwächen vertraut ist, wird man aufhören, „mit falscher Münze zu spielen“ und „etwas anderes sein zu wollen, als man ist“. „Nachahmung fremder Eigenschaften und Eigentümlichkeiten ist“ nach Schopenhauer „viel schimpflicher als das Tragen fremder Kleider: denn es ist das Urteil der eigenen Wertlosigkeit von sich selbst ausgesprochen.“ Schopenhauer gemahnt uns in diesem Zusammenhang denn auch noch einmal an Goethes berühmtes Wort aus dem „Faust“:

Du bist am Ende, was du bist.
Setz dir Perücken auf von Millionen Locken,
Setz deinen Fuß auf ellenhohe Socken:
Du bleibst doch immer, was du bist.


Im Jüdischen gibt es die schöne Redewendung: „Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzähl ihm von deinen Plänen.“ Ganz ähnlich rät Schopenhauer in einer dritten Lektion davon ab, die Rechnung ohne den Wirt zu machen. Wann immer wir Pläne für unser Leben schmieden, sollten wir daran denken, dass unser Schicksal nur sehr bedingt in unserer Hand ist:

„Es ist im Leben wie im Schachspiel: in beiden machen wir zwar einen Plan: dieser bleibt aber ganz und gar bedingt durch das, was im Schachspiel der Gegner und im Leben das Schicksal zu tun belieben wird.“

Ein vierter Ratschlag, den Schopenhauer uns mit auf den Weg gibt, lautet, dass wir das wenige, das uns vergönnt ist, zu würdigen wissen sollten. Statt der Flüche, mit denen wir behaftet sind, sollten wir unsere Segnungen zählen. „Wir müssen es dahin zu bringen suchen, dass wir, was wir besitzen, mit eben den Augen sehn, wie wir es sehn würden, wenn es uns entrissen würde: was es auch sei, Eigentum, Gesundheit, Freunde, Geliebte, Weib und Kind: meist fühlen wir den Wert erst nach dem Verlust. Wir pflegen beim Anblick alles dessen, was wir nicht haben, zu denken, »wie, wenn das mein wäre?«, und dadurch machen wir uns die Entbehrung fühlbar. Statt dessen sollten wir bei dem, was wir besitzen, denken: »wie, wenn ich dies verlöre?«“    

Nachdem er Senecas Ausspruch zitiert: „Niemals wirst du glücklich sein, wenn es dich quält, daß ein anderer glücklicher ist“, schreibt Schopen-hauer: „Nichts ist so unversöhnlich und so grausam wie der Neid: und doch sind wir unaufhörlich bemüht, Neid zu erregen!“

Die fünfte Lektion, die Schopenhauer seinen Lesern mit auf den Weg gibt, lautet daher: Nichts ist unserer Zufriedenheit abträglicher als ein auf Neid abzielendes Streben nach Geld und Ansehen.

„Es ist eine große Thorheit, um nach außen zu gewinnen, nach innen zu verlieren, d.h. für Glanz, Rang, Prunk, Titel und Ehre, seine Ruhe, Muße und Unabhängigkeit hinzugeben. Man erringt den Wohlstand für gewöhnlich nur auf Kosten seiner Muße: aber was hilft mir der Wohlstand, wenn ich das, was allein ihn wünschenswerth macht, die freie Muße, dafür hingeben soll?“

Wie hinlänglich bekannt, hatte Schopenhauer keine sonderlich hohe Meinung von den Menschen. „Die gewöhnlichen Leute sind bloß darauf bedacht, die Zeit zuzubringen, wie dies die Erbärmlichkeit der Zeitvertreibe bezeugt, zu denen man sie greifen sieht, imgleichen die Art ihrer Geselligkeit und Konversation, nicht weniger die vielen Thürsteher und Fensterkucker.“

Da ihm das Fernsehen noch unbekannt war, ereifert er sich insbesondere über das Kartenspiel, das für ihn „der deklarirte Bankrott an allen Gedanken ist: Weil sie nämlich keine Gedanken auszutauschen haben, tauschen sie Karten aus und suchen einander Gulden abzunehmen. O, klägliches Geschlecht!“  

Trotz seiner zunächst etwas elitär anmutenden Denkweise räumt Schopenhauer -- im großen Unterschied zu allen anderen Philosophen -- der bloßen „Heiterkeit des Sinnes“ jedoch eine weitaus größere Bedeutung bei als den „Fähigkeiten des Kopfes“. Für ihn ist die angeborene Heiterkeit des Gemüts ein unmittelbarer Gewinn: „Nichts kann so sehr, wie diese Eigenschaft, jedes andere Gut vollkommen ersetzen; während sie selbst durch nichts zu ersetzen ist. Einer sei jung, schön, reich und geehrt; so frägt sich, wenn man sein Glück beurtheilen will, ob er dabei heiter sei: ist er hingegen heiter; so ist es einerlei, ob er jung oder alt, gerade oder pucklich, arm oder reich sei; er ist glücklich.“




Samstag, 17. September 2016

Der Planet der Affen





Am 12. Oktober 2007 hat die Giordano-Bruno-Stiftung erstmals ihren mit € 10.000 dotierten "Deschner-Preis" vergeben. Dieser nach dem bekannten Kirchenkritiker Karlheinz Deschner benannte Preis ist für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Religions- und Ideologiekritik gedacht. Der damalige Preisträger war der Oxforder Evolutionsbiologe Richard Dawkins, der mit seinem in über 30 Sprachen übersetzten Buch "Der Gotteswahn" zweifellos einen herausragenden Beitrag zur Kritik der monotheistischen Religionen geleistet hat.

Am 3. Juni 2011 sollte der Deschner-Preis an den australischen Philosophen Peter Singer verliehen werden. Die Wahl schien denkbar gut getroffen. Denn wie Karlheinz Deschner, so setzt sich auch Peter Singer bereits seit Jahrzehnten für den Schutz der Tiere ein. Sein in über 20 Sprachen übersetztes Buch „Animal Liberation“ gilt vielen geradezu als „Bibel der Tierbefreiungsbewegung“. Vermutlich gibt es kein zweites Buch, das so viele Menschen dazu gebracht hat, dem Verzehr von Fleisch zu entsagen und sich vegetarisch zu ernähren. 




Trotz anfänglicher Begeisterung sprach sich Karlheinz Deschner nur wenige Monate vor dem Festakt gegen die Verleihung des nach ihm benannten Preises an Peter Singer aus. Bislang konnte man nur mutmaßen, was Deschner zu seinem Geisteswandel bewogen haben mag. Inzwischen hat Gabriele Röwer jedoch Licht in das Dunkel gebracht. In einem in der Zeitschrift „Aufklärung und Kritik“ veröffentlichten Artikel beschreibt sie, was Karlheinz Deschner von Peter Singer trennt.

Für Karlheinz Deschner geht die Tierethik von Peter Singer nicht weit genug. Anders als Singer möchte Deschner jedes Lebewesen geschützt sehen. Ohne den religiösen Begriff von der „Heiligkeit allen Lebens“ zu bemühen, glaubt er doch, dass jedes Leben den gleichen Wert habe. Auch wenn nicht alles Leben gleichartig sei, sei es doch gleichwertig.

Der Grund für Deschners ungewöhnliche Haltung liegt an seinem – auch von Giordano Bruno geteilten – Hang zum „Hylozoismus“: „Ich neige zum Hylozoismus, wonach jeder Stoff (hyle) von Leben (zoe) erfüllt ist, zum nahverwandten Panpsychismus sogar, der alle Materie für beseelt hält – woran ich nur beim Anblick bestimmter Artgenossen zweifle, aber nie vor Tieren, Blumen, einem Baum.“

Bei aller Bewunderung für den Autor der zehnbändigen „Kriminal-geschichte des Christentums“ wirft seine Weltanschauung doch einige kritische Fragen auf. Wie Deschner weiß, ist jede philosophische Position nur so gut wie die Argumente, die sie stützen. Doch wo sind die Argumente, die es uns erlauben anzunehmen, dass alle Lebewesen – ganz zu schweigen von aller Materie! – „beseelt“ wären?

Sicher, es lässt sich nicht ausschließen, dass auch Bakterien, Blumen, Bäume, Schmetterlinge, Würme und Käfer eine „Seele“ haben. Doch aus der Tatsache, dass sich die Existenz eines Innenlebens bei diesen Wesen nicht ausschließen lässt, folgt noch nicht, dass sie eines haben. Wir brauchen plausible Gründe dafür anzunehmen, dass, sagen wir, eine Rose oder eine Ameise, ein Bewusstsein, ein Ich oder ein Selbst haben. Nach allem, was wir wissen, spricht nichts dafür, dass sie auch nur empfindungsfähig, geschweige denn leidensfähig, sind.

Ich bezweifle nicht im geringsten, dass sich Karlheinz Deschners Mitgefühl buchstäblich auf alle Lebewesen erstreckt. Doch ich wage zu bezweifeln, dass er wirklich davon überzeugt ist, dass alles Leben den gleichen Wert habe. Wie wir alle, so ist auch Deschner dazu gezwungen, Werturteile vorzunehmen. Es vergeht kein Tag, an dem wir dies nicht tun. Wenn wir beim Aufschneiden einer Tomate nicht denselben Widerwillen empfinden wie wir ihn beim Aufschneiden einer Katze empfinden würden, zeigt dies bereits, dass wir nicht alles Leben als gleich wertvoll betrachten.

Angenommen, Karlheinz Deschner befände sich in einer Klinik für Reproduktionsmedizin. Nachdem ein Feuer ausbricht, kann er entweder ein gerade geborenes Baby oder eine Petrischale voller Embryonen retten. Würde er – würde irgendjemand? – daran zweifeln, dass er das Baby retten würde? Wenn er dem Überleben des Babys aber größere Bedeutung beimisst als dem Überleben der Embryonen, kann er unmöglich alles Leben für gleichermaßen wertvoll erachten.

Es gibt gute Gründe dafür, dass wir allen Menschen von Geburt an nicht nur ein moralisch, sondern auch ein juridisch geschütztes Recht auf Leben zuerkennen. Wollte Deschner allen Ernstes, dass wir auch das Leben von Bakterien mit der Macht des staatlichen Schwertes verteidigen, selbst wenn dies bedeutete, dass wir dann Kleinkinder an Diphterie sterben lassen müssten? 

Es erscheint mir offenkundig, dass Deschner die praktischen Konsequenzen seines Hylozoismus nicht ernsthaft durchdacht hat. „Alles Leben hat den gleichen Wert!“, hört sich zweifellos schön an. Damit kann man durchaus ein „Wort zum Sonntag“ bestreiten. Doch letztlich ist es eine bloße Floskel. Und wenn es jemand versteht, bloße Floskeln als solche zu entlarven, dann ist es für gewöhnlich Karlheinz Deschner.

Darüber hinaus missversteht Deschner die Auffassung von Singer auch. Wenn es etwa heißt, dass „philosophische Spekulationen darüber, wer leben darf und wer nicht“, Deschners Wesen fremd seien und ihm geradezu zynisch erscheinen, dann unterstellt er Singer eine Absicht, die er gar nicht verfolgt. Singer versucht nicht zu entscheiden, „wer leben darf und wer nicht“, sondern er versucht zu entscheiden, wessen Leben wir mit Hilfe von Moral und Recht schützen sollten. Dies ist keineswegs dasselbe. Selbst wenn Singer den Schutz von Moral und Recht auf das Leben von Menschen, Schimpansen, Elefanten oder Delfinen beschränkt, bedeutet dies nicht, dass alle anderen Lebewesen nun keine Daseinsberechtigung hätten, nicht leben dürften und getötet werden müssten. Es bedeutet lediglich, dass wir die Tötung einer Ameise, eines Käfers oder einer Schnecke nicht von unseren Justizbehörden verfolgen und ahnden lassen.

Es ist schwer vorstellbar, dass Deschner anders denkt als Singer. Wenn er zwar die Tötung eines lärmenden Kindes, nicht aber die Tötung einer lästigen Fliege strafrechtlich verfolgen und mit Freiheitsentzug ahnden lassen will, kann er einfach nicht jedem Leben den gleichen Wert beimessen.

Es wäre mehr als bedauerlich, wenn die geistigen Bande zwischen Peter Singer und Karlheinz Deschner durch bloße Missverständnisse zerrissen würden. Er sollte das „Great Ape Project“, für das Singer letztlich den „Ethik-Preis“ der Giordano-Bruno-Stiftung erhalten hat, als das betrachten, was es ist: Ein erster Schritt in Richtung eines moralischen und rechtlichen Schutzes nicht-menschlicher Tiere. Dass dieses Projekt auf Schimpansen, Gorillas, Orang-Utans und Bonobos beschränkt ist, bedeutet nicht, dass es zu Lasten anderer Tiere ginge. Ganz im Gegenteil! Sobald es gelungen ist, die Gesetzgeber dieser Welt von der Notwendigkeit eines rechtlichen Schutzes großer Menschenaffen zu überzeugen, kann damit begonnen werden, diesen Schutz auch auf andere Tiere zu erweitern.    



Mittwoch, 14. September 2016

Jenseits von Schuld und Sühne



In seiner 1872 gehaltenen Rede über „Die Grenzen des Naturerkennens“ erklärte der deutsche Physiologe Emil Du Bois-Reymond das Problem der Freiheit des menschlichen Willens für unlösbar. „Ignoramus et Ignorabimus“: „Wir wissen es nicht und wir werden es niemals wissen“, lautete sein ernüchterndes Urteil.

Wie jeder wissenschaftstheoretisch geschulte Philosoph zugeben wird, hatte der Mediziner mit seiner Diagnose durchaus Recht. Wie bei der Frage nach Gott oder der Seele haben wir es bei der Willensfreiheit mit einem schier unlösbaren Problem zu tun. Unlösbar, weil sich Existenzaussagen nicht widerlegen und Nichtexistenzaussagen nicht beweisen lassen.

Dies ist jedoch alles andere als ein Grund zur Resignation. Denn wenn wir die Willensfreiheit auch weder zu beweisen noch zu widerlegen vermögen, können wir doch sehr wohl das Problem lösen, das sich hinter ihr verbirgt. Dass uns die Willensfreiheit so stark beschäftigt, liegt schließlich vor allem daran, dass wir wissen wollen, ob wir Menschen für ihre Handlungen moralisch verantwortlich machen können.  



Ob Menschen für das, was sie tun, Lob und Tadel verdienen, ist jedoch viel einfacher zu klären, als gemeinhin angenommen. Gott, Freud und Libet zum Trotz bedarf es hierzu weder der Messung von neuronalen Aktionspotenzialen noch der Auswertung von Aufnahmen eines Magnetresonanztomographen. Die Frage, ob wir unsere Mitmenschen für ihr Tun und Lassen zur Verantwortung ziehen dürfen, lässt sich nämlich sogar a priori verneinen.

Die hierzu erforderliche Überlegung, die den Köpfen von Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche und Galen Strawson entstammt, ist dabei ebenso einfach wie bestechend: Wir tun, was wir tun, weil wir sind, wie wir sind. Dass wir sind, wie wir sind, ist weder unsere Schuld noch unser Verdienst. Denn so, wie wir uns nicht ausssuchen konnten, geboren zu werden, so konnten wir uns auch nicht aussuchen, mit welchem genetischen Erbe und in welche soziale Umwelt wir geboren werden. Da wir also keinerlei Kontrolle über unsere Geburt, unser Erbe und unsere Umwelt hatten, können wir auch nicht dafür verantwortlich sein, dass wir sind, wie wir sind.

Gewiss, Menschen können ihr Verhalten ändern. Doch ob sie dazu wirklich in der Lage sind, ist wieder eine Frage von Erbe und Umwelt. Den einen ist es gegeben, den anderen ist es verwehrt. Insofern allein Erbe und Umwelt entscheiden, ist es also letztlich eine Sache von Glück und Pech. Wenn aber bloßes Glück und Pech entscheiden, kann man Menschen auch keinen Vorwurf daraus machen, dass sie sind, wie sie sind, und dass sie handeln, wie sie handeln.

„Aber wir haben doch das Gefühl, frei zu sein!“, wird man einwenden. Sicher, dieses Gefühl haben viele; doch auf dieses Gefühl können wir uns nachweislich nicht verlassen. Denn wie spätestens die Hypnose gezeigt hat, kann dieses Gefühl sehr wohl täuschen. Wenn man einem in Trance versetzten Menschen den Auftrag erteilt, eine Stunde nach dem Erwachen seine Reisetasche zu packen, wird er es tun. Ohne zu wissen, dass er hiemit nur einen posthypnotischen Auftrag ausführt, glaubt er, frei zu sein, und erfindet sogar gute Gründe dafür, weshalb er unverzüglich auf Reisen gehen muss.   

All diese Überlegungen lassen nur eine Schlussfolgerung zu: Wir können nichts dafür, dass wir sind, wie wir sind, und handeln, wie wir handeln. Wem ein genetisches Erbe und eine soziale Umwelt beschieden sind, die ihn vor einem Konflikt mit dem Gesetz bewahren, hat in der Lotterie des Lebens schlicht Glück gehabt. Und wem ein genetisches Erbe und eine soziale Umwelt mitgegeben sind, die ihn mit dem Gesetz in Konflikt geraten lassen, hat in der Lotterie des Lebens eben Pech gehabt. Ersteren dürfen wir beneiden, letzteren bedauern. Doch den einen zu verehren und den anderen zu verachten, ist ungerechtfertigt.  

Manch einem mag diese Argumentation zu simpel erscheinen. Es geht aber sogar noch weit einfacher: Nach allem, was wir wissen, sind menschliches Denken, Fühlen und Wollen Funktionen unseres Gehirns. Wie alle anderen Organe, so unterliegt selbstverständlich auch unser Gehirn dem Kausalitätsgesetz. Wenn es durchweg deterministisch arbeitet, dann kann für Freiheit und Verantwortung offensichtlich kein Raum sein. Doch selbst wenn unser Gehirn indeterministisch funktionierte und es neben kausalen Prozessen durchaus auch akausale geben sollte, bliebe für Freiheit und Verantworung kein Raum. Schließlich können wir für Handlungen, die sich buchstäblich dem Zufall verdanken, genauso wenig wie für Handlungen, die sich der Notwendigkeit verdanken. Ganz gleich also, ob unser Verhalten auf deterministischem oder indeterministischem Wege zustande gekommen sein mag – wir hätten so oder so nicht anders handeln können, als wir tatsächlich gehandelt haben.    

Genau an dieser Stelle tauchen die Fragen auf, die dem Problem der Willensfreiheit überhaupt erst ihre Brisanz verleihen: Wenn Menschen für ihr Verhalten nicht verantwortlich gemacht werden können, erscheinen Schuld und Strafe vollkommen ungerechtfertigt. Viele Menschen fragen sich daher besorgt: Bedeutet dies, dass wir jetzt nicht einmal mehr Mörder hinter Schloss und Riegel sperren dürfen? Was soll dann aber aus unserer Gesellschaft werden? Wäre dies nicht eine Absage an Moral und Recht? Ja, sogar ein Freibrief für Anarchie?

Nein! Wie etwa Norbert Hoerster, Henrik Walter und Gerhard Vollmer gezeigt haben, schließt der Abschied von Freiheit und Verantwortung keineswegs den Abschied von Recht und Ordnung ein. Um dies zu verstehen, müssen wir uns nur auf die eigentliche Funktion von Moral und Recht besinnen.

Anders als vielfach angenommen, beruhen moralische und rechtliche Normen weder auf göttlichen Geboten noch auf natürlichen Sittengesetzen, sondern einzig und allein auf menschlichen Interessen. Moralische und rechtliche Normen sind – ähnlich wie die Bestimmungen eines Vertrags zum gegenseitigen Vorteil – bloße Konventionen. Sie haben die ganz weltliche und zugleich äußerst wichtige Aufgabe, menschliche Interessenkonflikte zu lösen und zu einem friedlichen Zusammenleben beizutragen.

Um von einer Norm zu sagen, dass sie gerechtfertigt ist, muss gezeigt werden können, dass ihre Befolgung in unser aller Interesse ist. Von vielen Normen lässt sich dies ohne weiteres zeigen. Nehmen wir beispielsweise die Norm “Du sollst nicht töten!”: Jeder mag gelegentlich das Interesse haben, einen anderen zu töten. Weitaus größer als das Interesse, gelegentlich zu töten, ist jedoch unser Interesse, nicht selbst getötet zu werden. Da der Nachteil, nicht töten zu dürfen, von dem Vorteil, nicht getötet zu werden, mehr als aufgewogen wird, hat jeder von uns einen guten Grund, sich für ein allgemeines Tötungsverbot auszusprechen.

Dass ein generelles Tötungsverbot in unser aller Interesse ist, ist freilich noch keine Gewähr dafür, dass es auch tatsächlich von jedem befolgt wird. Schließlich steht immer zu befürchten, dass es einige Menschen geben wird, die sich zwar an dem Nutzen, nicht aber an den Kosten des Tötungsverbots beteiligen wollen. Um sicherzustellen, dass es wirklich von allen befolgt wird, ist es daher in jedermanns Interesse, das Tötungsverbot mit einer rechtlichen Sanktion zu versehen. Denn erst eine Sanktion wie der Freiheitsentzug kann für den Regelfall gewährleisten, dass das Tötungsverbot tatsächlich von niemandem verletzt wird.

Was hier vom Mord gezeigt worden ist, lässt sich auch von Diebstahl, Körperverletzung, Vergewaltigung und anderen Verbrechen zeigen. Ganz unabhängig davon, ob wir nun frei und verantwortlich sind, es ist offensichtlich in unser aller Interesse, dass wir Verhaltensweisen, die uns schaden, sanktionieren. Selbst für den, der in der Lotterie des Lebens Pech gehabt hatte und Gefahr läuft, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, ist unser Gesellschaftsvertrag immer noch ein Angebot, das er nicht ausschlagen kann. Denn dieselben Sanktionen, die ihm drohen, drohen schließlich auch anderen – und schützen damit auch ihn selbst!

Dass Menschen für ihr Tun nichts können, bedeutet also keineswegs das Ende von Recht und Ordnung. Doch muss sich nicht zumindest unser Verhalten gegenüber den Rechtsbrechern ändern? Dürfen wir sie weiter für „schuldig“ und „verantwortlich“ erklären, ihnen moralische Vorwürfe machen und sie guten Gewissens ins Gefängnis stecken?  

Manche Deterministen, die so genannten „Kompatibilisten“, sagen: Ja! So hat etwa der „Vater des Wiener Kreises“, der deutsche Physiker und Philosoph Moritz Schlick, behauptet, dass unsere gegenwärtige Praxis des Tadelns und Strafens durchaus gerechtfertigt sei. Da Menschen sich unsere Vorwürfe zu Herzen nehmen und ihr Verhalten danach ausrichten, sei es weiterhin sinnvoll, sie für ihr Tun moralisch zu verurteilen und strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.

Schlick hat sicher recht, dass dies weiterhin „sinnvoll“ sein mag. Doch die Frage ist nicht, ob es gesellschaftlich sinnvoll ist, sondern ob es moralisch gerechtfertigt ist. Schließlich sind viele Dinge sinnvoll, aber deshalb noch lange nicht gerechtfertigt. Denken wir nur an die „Sippenhaft“: Dass sie die Zahl der Verbrechen zu reduzieren vermag, ist noch lange keine Rechtfertigung dafür, Unschuldige zu bestrafen.  

Ähnlich wie Schlick hat auch der Oxforder Philosoph Peter F. Strawson unsere gegenwärtige Strafpraxis zu verteidigen gesucht. Seiner Ansicht nach gehören unsere moralischen Gefühle wie etwa Empörung, Wut, Zorn, Hass und Verachtung so sehr zu unserer Natur, dass es schlicht und einfach aussichtslos sei, von Menschen zu erwarten, dass sie gegenüber Verbrechern Nachsicht und Milde walten lassen.

Strawson hat damit sicherlich nicht ganz unrecht. Die meisten Menschen reagieren auf ein Verbrechen in der Tat mit Zorn. Von den Opfern zu erwarten, dass sie ihre natürliche Entrüstung bezähmen, scheint etwas viel verlangt. Dennoch ist dieser Einwand nicht zwingend. Auch wenn dann und wann immer noch der Ruf nach dem Henker erschallen mag, haben die meisten Menschen ihre moralistischen Aggressionen doch heute weit besser im Griff als in vergangenen Jahrhunderten. Nicht nur die Prügelstrafe, sondern auch die Todesstrafe erscheint vielen Menschen mittlerweile einer zivilisierten Gesellschaft nicht würdig.  

Ein anschauliches Beispiel dafür, dass sich unsere emotionalen Reaktionen durchaus an empirischen Informationen orientieren können, bietet der berühmt gewordene Fall, über den der Neurologe Jeffrey Burns von der University of Virginia kürzlich berichtete: Ein unbescholtener Lehrer wurde im Alter von 40 Jahren plötzlich von pädophilen Neigungen überwältigt. Als sich herausstellte, dass diese unbezähmbaren Begierden von einem Tumor im orbifrontalen Kortex verursacht wurden, änderte die zunächst entrüstete Bevölkerung ihre Haltung sogleich – statt mit Vorwürfen reagierte sie mit Nachsicht.     

Wenn wir Rechtsbrechern aber nicht länger mit Verachtung begegnen dürfen, was sollen wir dann tun? Nun, das erste, was wir tun sollten, ist unsere Selbstgerechtigkeit aufgeben. Wie im Falle des pädophilen Lehrers müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass wir unter bestimmten Umständen alle mit dem Gesetz in Konflikt geraten können. Statt uns auf die Schulter zu klopfen, sollten wir daher einfach nur dem „Schicksal“ dankbar sein.

Dies kann aber selbstverständlich nicht alles sein. Einem Vorschlag des britischen Philosophen Jonathan Glover folgend, sollten wir noch einen erheblichen Schritt weiter gehen und unsere moralischen Urteile durch ästhetische Urteile ersetzen. Während moralische Urteile Verdienst voraussetzen, kommen ästhetische Urteile bekanntlich ohne sie aus. So bewundern wir etwa die Schönheit, den Charme oder die Intelligenz einer Person, obgleich uns durchaus bewusst ist, dass diese Reize nicht ihr Verdienst sind, sondern ihr einfach in die Wiege gelegt wurden.

Wie moralische Urteile so verfehlen auch ästhetische Urteile ihre Wirkung nicht. Menschen sind in aller Regel bemüht, als höflich, zuvorkommend, hilfsbereit, zuverlässig, verantwortungsbewusst, großzügig und fleißig zu gelten, und lassen sich nur ungern als faul, geizig, gehässig, gewissenlos, boshaft, niederträchtig und schadenfroh bezeichnen. Selbst wenn diese Bezeichnungen nicht moralisch-normativ, sondern lediglich ästhetisch-deskriptiv gemeint sind, lassen sich die allermeisten Menschen von diesen Urteilen doch beeinflussen.

Auch uns selbst gegenüber entfalten ästhetische Urteile ihre Wirkung. Angenommen, ich würde zu Geiz neigen. Auch wenn ich mir keinen Vorwurf daraus machen müsste, könnte ich es doch sehr wohl bedauern, so zu sein. Und da ich nicht im Ruf stehen wollte, ein Pfennigfuchser zu sein, hätte ich auch ein gutes Motiv, mein Verhalten zu ändern.  

Mancher mag den Eindruck haben, dass ästhetische Urteile die moralischen Urteile nicht wirklich ersetzen können. Schließlich scheinen moralische Unwerturteile eine weit stärkere soziale Wirkung zu erzielen als ästhetische Unwerturteile. Doch ich wage zu bezweifeln, dass dies ein Nachteil sein muss. Denn moralische Urteile gehen nicht nur mit sozialem Nutzen, sondern auch mit sozialen Kosten einher. Und der Zorn, die Wut und der Hass, mit denen wir anderen begegnen, hat sowohl in persönlichen als auch in politischen Beziehungen nur zu oft für vermeidbare Streitigkeiten und unnötiges Blutvergießen gesorgt.   

Für den einen oder anderen mag sich all dies wie die seichte Predigt eines unverbesserlichen Gutmenschen anhören. Verlangt unsere Gesellschaft nicht gerade, dass wir endlich härter durchgreifen? Dass wir mit Verbrechern nicht nachsichtiger, sondern unnachsichtiger umgehen? Nun, wer glaubt, dass der Determinismus nicht „tough on crime“, sondern „soft on crime“ sei, irrt sich. Der Determinismus unterscheidet lediglich zwischen dem Umgang mit Verbrechern und dem Umgang mit Verbrechen. So war es beispielsweise durchaus konsequent, als der von Schopenhauer beeinflusste Staatsanwalt und bekennende Determinist Fritz Bauer in den Frankfurter Auschwitz-Prozessen hart durchgegriffen hat. Sein Ziel war schließlich nicht, Vergeltung an den Tätern zu üben, sondern auch dem allerletzten Menschen zu zeigen, das es seinen Preis hat, sich an den Verbrechen eines Unrechtsregimes zu beteiligen. Und so gelang es ihm, ein wirksames Signal gegen die Verübung von Unmenschlichkeiten zu setzen.