Charles Darwins „Evolution durch natürliche
Selektion“ gilt weithin als die größte Idee in der Geschichte der Wissenschaft.
Seit ihrem ersten Bekanntwerden im Jahre 1859 gilt sie aber zugleich auch als
die vielleicht gefährlichste Idee aller Zeiten. Obgleich es mit Spinoza,
Hobbes, La Mettrie, Hume, Voltaire oder d’Holbach durchaus schon eine Vielzahl
von Skeptikern gab, glaubte die Mehrheit der Menschen zu dieser Zeit doch noch
an die Bibel, wonach Gott diese Welt mitsamt aller ihrer Kreaturen in sieben Tagen
geschaffen hat.
Darwin, der in seiner Jugend an der University of Cambridge
zunächst Theologie studiert hatte, war sich der Sprengkraft seiner Idee auch sehr
wohl bewusst. Wenn seine Idee richtig war, sagte er sich, hätte er Gott gewissermaßen
arbeitslos gemacht. Schließlich bedurfte es jetzt keines Schöpfers mehr, um die
Vielfalt der Arten und die Zweckmäßigkeit der Natur zu erklären.
Einige Freunde Darwins gingen freilich noch
entschieden weiter. Sie behaupteten allen Ernstes, dass er Gott getötet habe.
Getauft als Anglikaner und verheiratet mit einer tiefgläubigen Unitarierin,
bereitete ihm die Idee der Evolution über Jahre schwere Gewissensnöte.
Genau an dieser Stelle setzt Jon Amiels wunderbarer Film
„Creation“ ein. Es zeigt, wenn auch in einer frei erfundenen Geschichte, wie
Charles Darwin im Jahre 1858 von Skrupeln geplagt die Veröffentlichung seines
Hauptwerkes immer wieder hinauszögert.
Hinzu kommt, dass Darwin nach dem Tod seiner ältesten
Tochter „Annie“, die im zarten Alter von gerade einmal zehn Jahren von einem
heimtückischen Fieber dahingerafft wird, in regelmäßigen Abständen unter
Anfällen einer tiefen Schwermut leidet.
In Rückblicken und Tagträumen spricht er mit „Annie“,
deren aufgeweckten Geist und unerschöpfliche Neugierde ihm stets ein Quell der
Freude waren. Aber ihr Ableben stellt Darwin vor das Theodizee-Problem: Wie
kann ein barmherziger Gott all das Leid in dieser Welt zulassen?
Durch die Evolutiontheorie hat sich das Problem der
Theodizee noch verschärft. Denn nun war die Welt nicht mehr nur einige tausend
Jahre, sondern einige Milliarden Jahre alt. Und das hieß, dass es das Leid
schon weit länger als den Menschen gab. Wie kann also ein vermeintlich
allmächtiger, allwissender und allgütiger Gott das namenlose Leid der Tiere
dulden?
In seiner erst posthum erschienenen Autobiographie
schrieb Darwin denn auch: „Dass es viel Leid auf Erden gibt, bestreitet keiner.
Man hat das – soweit es den Menschen betrifft – damit zu erklären versucht,
dass es seiner sittlichen Besserung diene. Aber die Zahl der Menschen ist wie
nichts im Vergleich mit der aller anderen fühlenden Wesen. Diese leiden oft
erheblich ohne die Möglichkeit einer sittlichen Besserung. Ein Wesen, das so
mächtig und kenntnisreich ist wie ein Gott, der das Universum erschaffen
konnte, erscheint unserem begrenzten Geist allmächtig und allwissend, und es
beleidigt unser Verständnis, dass sein Wohlwollen nicht unbegrenzt sein soll,
denn was für einen Vorteil könnte das Leiden von Millionen niederer Tiere durch
fast endlose Zeiten hindurch haben?“
Um sich ein Bild vom Leiden der Tiere zu machen,
lohnt es, einen Absatz aus dem Werk eines zeitgenössischen Evolutionsbiologen
zu zitieren. In seinem Buch „Und es entsprang ein Fluss in Eden“ schreibt
Richard Dawkins: „Das Leiden hat in der Natur jedes Jahr ein Ausmaß, das alle
erträglichen Vorstellungen übersteigt. In der Minute, in der ich diesen Satz
niederschreibe, werden Tausende von Tieren bei lebendigem Leibe gefressen;
andere laufen bebend vor Angst um ihr Leben; wieder andere werden langsam und
von innen heraus durch gefräßige Parasiten zugrunde gerichtet. Tausende von
Lebewesen aller Arten sterben an Hunger, Durst und Krankheiten.“
Charles Darwin, der im Film übrigens wunderbar von
Paul Bettany verkörpert wird, war freilich nicht der erste, dem das Leid der
Tiere als ein Einwand gegenüber der Güte Gottes erschien. So schloss sich
beispielsweise schon der französische Philosoph Nicolas Malebranche bewusst der
berühmt-berüchtigten Auffassung von René Descates an, wonach Tiere seelenlose Automaten
seien, die keinerlei Gefühle kennen würden. Denn wie, so fragte er, sollte man
sonst erklären, dass ein gerechter Gott unschuldige Tiere leiden lässt?
Inzwischen dürfte es wohl kaum noch jemanden geben,
der bestreiten würde, dass zumindest höhere Lebewesen, wie insbesondere die
Säugetiere, Schmerzen empfinden können. In einem neuen Versuch, das Leiden der
Tiere mit der Güte Gottes in Einklang zu bringen, hat der Theologe Eugen Drewermann
jedoch kürzlich einen ganz ähnlichen Weg beschritten. Er behauptet, dass Tiere,
die in freier Wildbahn gerissen werden, nicht leiden. Seiner Ansicht nach
versterben die Beutetiere bereits, bevor die Raubtiere sie zu zerfleischen beginnen.
Sie sterben an einem, wie er es nennt, „Vagus-Tod“, einem plötzlichen
Herzversagen, das im Zustand absoluter Ausweglosigkeit einzutreten pflege: „So
kann eine Antilope sterben, noch ehe die Pranken der sie verfolgenden Löwin
sich in ihr Fleisch schlagen.“
Ich will nicht in Abrede stellen, dass es solche
Todesfälle geben mag. Doch wie jeder, der schon einmal eine Dokumentation über
das Leben in der Serengeti gesehen hat, weiß, ist das keineswegs die Regel.
Anders als Löwen sind Hyänen beispielsweise außerstande, ihre Opfer mit einem
einzigen Biss zu töten. Zumeist dauert es zwanzig qualvolle Minuten, bis ein
von einem Rudel von Hyänen zur Strecke gebrachtes Zebra endlich stirbt.
In seinem erwähnten Buch „Und es entsprang ein Fluss
in Eden“ hat sich übrigens auch schon Richard Dawkins mit der Idee eines
„Vagus-Todes“ beschäftigt: „Wäre die Natur freundlich“, schreibt er, „würde sie
wenigstens ein kleines Zugeständnis machen und die Tiere betäuben, bevor sie
bei lebendigem Leibe gefressen werden. Man könnte sich leicht ein Gen vorstellen,
dass beispielsweise die Gazelle sediert, wenn sie im Begriff ist, den tödlichen
Biss zu erleiden. Würde die natürliche Selektion ein solches Gen fördern? Nein,
es sei denn, durch die Beruhigung der Gazelle steigt die Wahrscheinlichkeit,
dass dieses Gen an zukünftige Generationen weitergegeben wird. Wie das
geschehen soll, ist schwer zu erkennen, und deshalb müssen wir annehmen, dass
Gazellen schreckliche Schmerzen und Ängste erdulden, wenn sie zu Tode gejagt
werden – und dieses Schicksal steht den meisten von ihnen bevor.“
Von all den christlichen Apologeten, die sich mit dem
Theodizee-Problem auseinandergesetzt haben, hat sich wohl niemand so sehr mit
der Frage nach dem Leid der Tiere beschäftigt wie der irische Literaturwissenschaftler
und Schriftsteller C. S. Lewis. In seinem 1940 erschienenen Buch „Das Problem
des Schmerzes“ hat er den Tieren ein ganzes Kapitel gewidmet. Gleich im ersten
Absatz stellte er die theologische Herausforderung durch das Leiden der Tiere
in aller Fairness dar:
„Die ganze Zeit aber dringt eine Klage von unverschuldetem Weh durch die Wolken,
weil die christliche Deutung des menschlichen Schmerzes nicht auf den Schmerz
der Tiere ausgedehnt werden kann. Soweit wir wissen, sind Tiere weder der Sünde
noch der Tugend fähig; und also leiden sie weder zu Recht, noch können sie
durch Leid gebessert werden.“
Nahezu ein Jahrhundert nach Charles Darwins „Die Entstehung
der Arten“ lehnt Lewis auch den Gedanken ab, dass das Leiden der Tiere eine
Folge der Erbsünde und Adams Fall sei:
„Dies ist nicht mehr möglich; denn wir haben guten
Grund anzunehmen, dass die Tiere lange vor den Menschen existiert haben. Fleischfresserei
mit allem, was daraus folgt, ist älter als die Menschheit.“
Obgleich sich Lewis davor scheut, die Erbsünde ins
Spiel zu bringen, nimmt er seine Zuflucht dann aber letztlich doch bei „Satan“
und der „Macht der Finsternis“:
„Gibt es, wie ich glaube, eine solche Macht, dann ist
es durchaus möglich, dass sie die Schöpfungsordnung der Tiere schon vor dem
Auftreten des Menschen verdorben hat.“
Gewiss ist dies möglich! Doch philosophisch ist es
eine reine ad hoc Annahme. Hier wird
einfach an die „Macht der Finsternis“ appelliert, ohne auch nur den geringsten
Versuch zu unternehmen, deren Existenz zuallererst zu begründen. Noch wird die Frage
angesprochen, weshalb der Schöpfer einem übelwollenden Teufel eigentlich Macht
über seine Kreaturen einräumen sollte.
Lewis scheint sich der Schwäche seines Arguments denn
auch bewusst zu sein, wenn er schließlich sogar über die „Unsterblichkeit der
Tiere“ zu spekulieren beginnt. Doch dass Gott sich genötigt fühlen sollte, die
Tiere im Himmel für ihr Leiden auf Erden zu entschädigen, kommt freilich einer
Kapitulation vor dem Theodizee-Problem gleich.
Ein metaphysikfreier Versuch einer Theodizee ist unlängst
von dem britischen Philosophen Michael Ruse unternommen worden. Obgleich selbst
Atheist, hat sich Ruse in den vergangenen Jahren mehr und mehr zu einem
Gegenspieler von Dawkins entwickelt. Dessen Buch „Der Gotteswahn“ kommentierte
er mit der Bemerkung, dass es eine „Schande für den Atheismus“ sei. In seinem
Buch „Can A Darwinian Be A Christian?“ versucht Ruse denn auch Dawkins mit
seinen eigenen Waffen zu schlagen. Hierzu greift er Dawkins’ Bemerkung auf,
dass, wo auch immer wir im Universum auf Leben stoßen sollten, es sich dem
Prozess der Evolution durch natürliche Selektion verdanken werde.
Geradezu triumphierend behauptet Ruse, dass Dawkins
mit dieser Bemerkung den Christen unfreiwillig in die Hände gespielt habe: Denn
wenn es keine Alternative zur Evolution gebe, habe Gott selbstverständlich auch
keine andere Wahl gehabt, als seine Schöpfung den Gesetzen von Mutation und Selektion
zu unterwerfen. Dass die Tiere einer „Natur mit Zähnen und Klauen blutigrot“
ausgeliefert sind, sei daher einfach der unvermeidliche Preis der Schöpfung.
Doch dies ist natürlich ein billiger Trick. Dawkins
hat nie behauptet, dass es überhaupt keine Alternative zur Evolution gebe. Er
hat lediglich gesagt, dass, wo auch immer Leben von selbst entsteht, es sich
sicher unter denselben Darwinschen Gesetzmäßigkeiten entwickelt haben wird wie
das Leben auf unserer Erde. Davon, dass selbst ein allwissender Gott auf die
Evolution durch natürliche Selektion angewiesen sein würde, war nie die Rede.
Zu behaupten, dass Gott außerstande gewesen sei, eine Natur zu schaffen, in der
es kein Gesetz des Fressens und Gefressenwerdens gebe, ist erneut eine reine ad hoc Behauptung.
In einem Interview mit der BBC ist der bekannte
Tierfilmer Sir David Attenborough einmal gefragt worden, wie er es mit der Religion
halte. Denn in keiner seiner Dokumentationen habe er je das Wort „Schöpfer“
gebraucht. Attenborough antwortete, dass er keineswegs blind für die Schönheit
der Natur sei. Doch neben den Orchideen, den Schmetterlingen und den Paradiesvögeln
sehe er auch einen dreijährigen Jungen in Westafrika, dessen Augapfel von einem
Wurm durchbohrt werde und ihn erblinden lasse, bevor er das fünfte Lebensjahr erreicht.
„Bereits die Existenz solch parasitärer Würmer scheint mir gegen die Idee eines
barmherzigen Schöpfers zu sprechen.“
Attenboroughs Antwort erinnert stark an eine Aussage
Darwins. In einem Brief an seinen Freund Asa Gray schrieb er einmal: „Ich kann
mich nicht zu der Ansicht überreden, dass ein wohlmeinender und allmächtiger
Gott die Ichneumonidae ausgerechnet mit der Absicht geschaffen haben soll, dass
sie sich im lebenden Körper von Raupen ernähren.“ Die Ichneumonidae sind eine
Klasse parasitärer Wespen. Mit einem gezielten Stich lähmen sie die motorischen,
nicht aber die sensorischen Nerven einer Raupe, um dann ihre Eier darin abzulegen.
Wenn die Larven schlüpfen, fressen sie sich ihren Weg durch den lebenden Körper
ihres Wirts.
Wir wissen nicht, ob Raupen Schmerz empfinden können.
Doch ich glaube der Grund, weshalb Darwin das Beispiel der Ichneumoniden
gewählt hatte, bestand auch nicht darin, zu zeigen, wie sehr Tiere leiden,
sondern darin, welche Rückschlüsse wir auf den Charakter des Schöpfers ziehen
müssten, wenn wir in der Natur ein Werk Gottes erblicken wollten: Was sagt die
Schöpfung von Parasiten, die ihren Wirt von innen auffressen, über den Schöpfer
aus?
Die Theologen können sich daher also auch drehen und
wenden, wie sie wollen, eine Natur mit Viren, Bakterien und Parasiten, die
nicht nur über Menschen, sondern auch über Tiere herfallen, lässt sich einfach
nicht mit dem Glauben an einen fürsorgenden und barmherzigen Gott vereinbaren.
Das bedeutet wohlgemerkt nicht, dass der Darwinismus den Theismus widerlegt
hätte. Keineswegs! Es ist nach wie vor möglich, an einen Schöpfer zu glauben.
Doch von diesem Schöpfer ließe sich vieles sagen – dass er gleichgültig,
launisch, erbarmungslos, grausam oder gar zynisch sei –, nur eines mit Sicherheit
nicht: dass er gütig sei!
Und dies war letztlich auch die Ansicht von Charles
Darwin. Seine Idee der Evolution hat ihn nicht zu einem Atheisten, sondern lediglich
zu einem Agnostiker werden lassen, der sich bis an sein Lebensende mit der
Gottesfrage quälte.
Ein Grund für diese Qual wird im Film „Creation“ denn
auch sehr eindringlich dargestellt: Seine Frau Emma, gespielt von Jennifer
Conelly, liebt Charles so sehr, dass es ihr förmlich Schmerzen bereitet, sich
vorzustellen, dass sie wegen seiner Zweifel im nächsten Leben vielleicht nicht
zusammen sein sollten.
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