Donnerstag, 10. Mai 2018

Die Evolution der Religion oder: Warum glauben wir?


Wir alle kennen die Antworten von Feuerbach, Marx und Freud. Nach Ludwig Feuerbach schuf der Mensch Gott nach seinem Bilde. Laut Karl Marx ist die Religion das Opium des Volkes, mit dem es sich über die Not und Pein seines jammervollen Daseins hinwegtröstet. Und für Sigmund Freud verbirgt sich hinter dem Glauben an Gott die Sehnsucht nach dem Vater unserer frühen Kindertage, der seine Hand schützend über uns hielt.



Obgleich alle drei Antworten etwas für sich haben, sind sie doch nicht wirklich überzeugend. Wenn überhaupt, dann erklären sie nur die monotheistischen Religionen. Neben dem Judentum, dem Christentum und dem Islam, die an einen gütigen Vater im Himmel glauben, gibt es jedoch noch den Hinduismus, den Buddhismus und den Jainismus. Und neben diesen „Weltreligionen“ gibt es schließlich noch zahllose kleinere Religionen. Ja, nach allem, was wir wissen, gibt es keine einzige menschliche Kultur, die ohne Religion wäre.

Angesichts der Tatsache, dass die Religion rund um den Globus anzutreffen und damit nicht nur universell, sondern geradezu „natürlich“ ist, sollten wir vielleicht besser nach einer biologischen Antwort suchen.

Eine biologische Antwort kann zwei Formen annehmen. Sie kann die Religion als eine „Adaptation“ oder als eine „Exaptation“ betrachten. Mit einer Adaptation ist gemeint, dass sie ein direktes Produkt der natürlichen Selektion ist. Und mit einer Exaptation ist gemeint, dass sie nur ein indirektes Produkt der natürlichen Selektion ist. Als ein direktes Produkt der natürlichen Selektion – also als eine Adaptation – bezeichnet man ein Merkmal, das sich in der Evolution durchgesetzt hat, weil es seinen Trägern einen unmittelbaren Überlebens- oder Fortpflanzungserfolg verschaffte. Als ein indirektes Produkt der natürlichen Selektion – also als eine Exaptation – bezeichnet man dagegen ein Merkmal, das seinen Trägern keinen unmittelbaren Überlebens- oder Fortpflanzungsvorteil verschaffte, sondern lediglich ein zufälliges Nebenprodukt ist.

Nehmen wir ein Beispiel. Warum ist Blut rot? Hatten Menschen mit rotem Blut größere Überlebens- und Fortpflanzungschancen als Menschen mit, sagen wir, grünem Blut? Sicher nicht. Dass Blut rot ist, liegt einzig und allein daran, dass es Hämoglobin enthält, ein Molekül zum Transport von Sauerstoff. Und Hämoglobin ist nun einmal rot. Hätte sich ein anderes Molekül zum erfolgreichen Transport von Sauerstoff gefunden, das zufällig grün wäre, hätten wir heute vielleicht grünes Blut. Mit anderen Worten: Dass unser Blut Hämoglobin enthält, ist ein direktes Produkt der natürlichen Selektion: hämoglobinhaltiges Blut ist adaptiv, weil es seinen Trägern Überlebensvorteile sichert. Dass unser Blut rot ist, ist dagegen ein indirektes Produkt der natürlichen Selektion: rotes Blut ist exaptiv, weil es sich lediglich der Farbe des Hämoglobins verdankt.        


Nehmen wir sicherheitshalber noch ein weiteres, sogar noch anschaulicheres Beispiel. Sexuelles Verlangen zu verspüren, ist adaptiv. Vorfahren mit sexuellem Verlangen haben mehr Nachkommen hinterlassen als Vorfahren ohne sexuelles Verlangen. Sexuelles Verlangen bringt es nun aber einmal mit sich, dass Menschen nicht nur mit anderen Menschen koitieren, sondern mitunter auch masturbieren. Koitieren ist adaptiv, insofern es uns Fortpflanzungsvorteile verschafft. Masturbieren ist dagegen exaptiv, insofern es nur ein Nebenprodukt unseres sexuellen Verlangens darstellt.

Gleiches kann man wahrscheinlich auch für die so genannten „Perversionen“ annehmen. Das sexuelle Verlangen ist von der natürlichen Selektion prämiert worden, weil es in aller Regel dazu führt, dass wir mit anderen fortpflanzungsfähigen Menschen schlafen. Bisweilen führt das sexuelle Verlangen aber auch dazu, dass Menschen sich an Kindern, Greisen, Tieren oder gar Leichen vergreifen. Die Pädophilie, Gerontophilie, Zoophilie und Nekrophilie sind aber nur ein Nebenprodukt der Evolution des sexuellen Verlangens – sie sind exaptive Phänomene der adaptiven Libido.

Exaptationen müssen nun aber keineswegs immer unerwünschte Verirrungen sein. Einige sind durchaus wünschenswert. Nehmen wir etwa unsere Sorge um Tiere. Dass uns an ihrem Wohlergehen liegt und uns ihr Leid berührt, liegt sicherlich an unserer Fähigkeit zur Empathie. Unsere Fähigkeit, uns in den Zustand anderer hineinzuversetzen, ist ein Produkt der natürlichen Selektion. Es ist adaptiv, weil es der Sorge um unsere Kinder zugute kam. Wie die Sexualität kann die Empathie aber auch Wesen gelten, für die sie gar nicht evolviert ist. Unser Mitgefühl für Hunde und Katzen, für Pinguine und Robben sowie für Schimpansen und Delfine ist sicherlich eine exaptive Reaktion unserer adaptiven Empathie.

Doch zurück zur Religion. Ist sie eine Adaptation oder eine Exaptation? Es ist schwer zu sehen, inwiefern Menschen, die an Götter, Geister und Dämonen glauben, dadurch irgendwelche Überlebens- oder gar Fortpflanzungsvorteile haben sollten. Ich gehe daher davon aus, dass die Religion eher ein Nebenprodukt der Evolution ist. Die Religion von vornherein als ein bloßes Nebenprodukt abzutun, mag ungerechtfertigt erscheinen. Doch ich glaube, dass uns das Sparsamkeitsprinzip der Wissenschaft dazu verpflichtet. Denn wenn eine exaptive Interpretation der Religion eine hinreichende Erklärung bietet, können wir auf eine adaptive Interpretation verzichten. 

Wenn wir unterstellen, dass die Religion lediglich eine Nebenprodukt der Evolution darstellt, stellt sich natürlich sogleich die Frage: Ein Nebenprodukt wovon? Eine mögliche Antwort ist, dass die Religion ein Nebenprodukt der Evolution des menschlichen Intellektes ist. Für viele Jahre bin ich beispielsweise davon ausgegangen, dass es in der Stammesgeschichte der Menschheit gewissermaßen einen Tag gegeben haben muss, an dem das Gehirn unserer Vorfahren einen Entwicklungsstand erreicht hatte, dass es so existenzielle Fragen aufwerfen konnte wie: Warum gibt es eigentlich etwas und nicht vielmehr nichts? Woher kommt diese Welt eigentlich her? Wozu dient unser Leben? Und wieso gibt es Alter, Krankheit und Tod?

Meiner Ansicht nach stellten die verschiedenen Religionen nur verschiedene Antworten auf diese existenziellen Fragen dar. Und die Antworten, die nicht nur den intellektuellen Fähigkeiten, sondern auch den emotionalen Bedürfnissen unserer Vorfahren am ehesten entsprachen, haben dann die Grundlage der Weltreligionen gebildet.

Insofern der Hinduismus, der Buddhismus, der Jainismus, das Judentum, das Christentum und der Islam allesamt „Erlösungsreligionen“ sind, hatte ich angenommen, dass sich die Religionen letztlich der Frage nach der Herkunft des Leids und Elends verdanken. Schließlich betrachten all diese Religionen diese Welt als ein Jammertal und zeigen uns einen Weg, wie wir von diesem Dasein erlöst werden können.

Wie mir jedoch Pascal Boyer auf einer Tagung zur Evolution der Religion deutlich machte, greift dieser Erklärungsversuch zu kurz. Unter den zahllosen Religionen gebe es viele, für die das Leid und Elend dieser Welt überhaupt kein Problem darstelle. Die Erlösung von unserem irdischen Dasein sei daher auch keineswegs die Wurzel der Religion.

In seinem Buch „Der Gotteswahn“ stellt Richard Dawkins eine alternative biologische Erklärung vor. Auch er hält die Religion für ein Nebenprodukt. Seines Erachtens ist sie aber nicht aus den ewigen Fragen, sondern aus der kindlichen Leichtgläubigkeit entstanden. Kinder, die ihren Eltern glaubten, dass man bestimmte Beeren nicht essen oder in einem bestimmten Fluss nicht baden sollte, hatten sicher bessere Überlebens- und Fortpflanzungschancen gehabt als Kinder, die den elterlichen Rat einfach in den Wind geschlagen haben und von Beeren vergiftet oder von Krokodilen zerrissen worden sind.

Die Leichtgläubigkeit oder, sagen wir besser, die Faustregel: „Glaube alles, was erfahrene Menschen dir im ernsten Ton sagen“, ist also durchaus adaptiv. Ein Nebenprodukt dieser Faustregel ist aber, dass Kinder nicht nur richtigen, sondern auch falschen Informationen Glauben schenken. Sie wissen nicht, wie Richard Dawkins schreibt, „dass ‚Plansch nicht in einem Teich voller Krokodile’ ein guter Ratschlag ist, während ‚Du sollst bei Vollmond eine Ziege opfern, sonst bleibt der Regen aus’ im besten Fall eine Vergeudung von Zeit und Ziegen darstellt.“

Dawkins’ Spekulation zur Evolution der Religion hat sicher auch eine gewisse Anfangsplausibilität. Letztlich erklärt sie aber nur die Weitergabe der Religion, nicht die Entstehung der Religion. Dass neben sinnvollen auch sinnlose Informationen von Generation zu Generation weitergereicht worden sind, mag ja wahr sein. Aber die eigentliche Frage lautet doch: Wie ist eine so abwegige Idee wie die, Ziegen für den Regen zu opfern, überhaupt in die Welt gekommen?

Wir brauchen also einen alternativen Erklärungsversuch. Die plausibelsten Ansätze zur Erklärung der Religion entstammen meines Erachtens der Neurobiologie und der Kognitionspsychologie. Wie schon die von Konrad Lorenz und Gerhard Vollmer begründete Evolutionäre Erkenntnistheorie gezeigt hat, kommen wir mit bestimmten kognitiven Strukturen auf die Welt, die Teil unseres biologischen Erbes sind. So sehen wir alle Ereignisse in dieser Welt in Raum und Zeit wie auch in einer kausalen Abfolge. Das kausale Denken hat sich beispielsweise so tief in unser Gehirn eingegraben, dass wir gar nicht anders als kausal denken können, obgleich wir inzwischen sehr wohl wissen, dass es akausale Prozesse im Universum durchaus gibt.

Wie die Kognitionspsychologie gezeigt hat, kommen wir nicht nur mit einem angeborenen Wissen des Kausalitätsgesetzes, sondern auch mit einem angeborenen Wissen des Gravitationsgesetzes auf die Welt. Wenn man sechs Monate alten Babys einen Gegenstand zeigt, der auf einem Tisch steht, und den Tisch dann wegzieht, erwarten sie, dass der Gegenstand zu Boden fällt. Falls er jedoch in der Luft hängen bleibt, weil er von einem unsichtbaren Draht gehalten wird, machen die Kinder große Augen – ein Indiz dafür, dass dieses Ereignis ihren angeborenen kognitiven Erwartungen widerspricht. 

Mit einem Gehirn auf die Welt zu kommen, dass uns eine intuitive Kenntnis des Kausalitätsgesetzes und des Gravitationsgesetzes verleiht, ist sicher adaptiv. Menschen, welche die ersten Anzeichen eines Vulkanausbruchs erkennen konnten und rechtzeitig Schutz suchen konnten, haben, zweifellos mehr Kinder gezeugt haben als solche, die den herunterstürzenden Felsbrocken und der herabfließenden Lava nur tatenlos zugesehen haben.

So wie es vorteilhaft war, das Verhalten von Vulkanen vorhersagen zu können, so dürfte es auch vorteilhaft gewesen sein, das Verhalten von Raubtieren vorhersagen zu können. Zu diesem Zweck hat sich ein „intentionalistisches“ Denken entwickelt: Bereits zwölf Monate alte Kinder schreiben allen Objekten geheime Absichten zu. Wenn man ihnen beispielsweise zwei Autos zeigt, von denen das eine dem anderen folgt, unterstellen sie intuitiv, dass es sich um eine Verfolgungsjagd handeln müsse. Entsprechend überrascht re-agieren sie, wenn eines der beiden Autos plötzlich stehen bleibt.

Bei der Begegnung mit einem Tiger dürfte die intuitive Kenntnis des Kausalitäts- und des Gravitationsgesetzes nur wenig genützt haben. In diesen heiklen Situationen musste man nicht nur die Physik, sondern zudem noch die Psychologie des Objekts verstehen. Ob man dem Tiger heimtückische Absichten unterstellen und sich rechtzeitig in Sicherheit bringen sollte, war hier buchstäblich eine Frage von Leben und Tod. Menschen, die intentionalistisch dachten und entsprechend argwöhnisch handelten, dürften hier zweifellos im Vorteil gewesen sein – sie werden nicht nur ihre Haut gerettet haben, sondern auch mehr Nachkommen gezeugt haben.

Intentionalistisch zu denken ist also durchaus adaptiv: Es beschleunigt überlebenswichtige Entscheidungsprozesse in gefährlichen Situationen. Mit dem intentionalistischen Denken gehen jedoch auch animistisches und dualistisches Denken einher: Kinder schreiben vielen Objekten eine Seele zu und betrachten Körper und Geist als unabhängig voneinander. Als man Vorschulkindern die Geschichte von einer Maus und einem Alligator erzählte, an deren Ende die Maus vom Alligator gefressen wurde, haben sie durchaus eingesehen, dass die Maus nun keine physischen Bedürfnisse wie Hunger oder Durst mehr verspürt. Doch sie bestanden darauf, dass sie weiter psychische Bedürfnisse kennt und beispielsweise noch Trauer oder Heimweh empfindet.

Kinder betrachten ihren Geist also nicht als Teil ihres Körpers. Sie gehen vielmehr davon aus, dass Leib und Seele getrennt sind und der Geist sich des Körpers gewissermaßen nur bedient. Wenn Leib und Seele aber als zwei grundverschiedene Dinge betrachtet werden, kann es selbstverständlich nicht nur Körper ohne Seelen geben, sondern auch Seelen ohne Körper. Dämonen, die von einem Menschen Besitz ergreifen und von einem Exorzisten ausgetrieben werden müssen, sind ein Beispiel für Seelen ohne Körper; Zombies, wie sie auf Haiti beschrieben werden, sind dagegen Körper ohne Seele.

Der angeborene Dualismus erklärt auch, weshalb die meisten Menschen von einem Leben nach dem Tode überzeugt sind. Einige meinen, dass die Seele entweder in den Himmel oder in die Hölle kommt; andere glauben, dass sie sich einen neuen Körper sucht und in einem anderen Menschen oder in einem Tier unterschlüpft. Der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele und die Reinkarnation sind also ganz natürliche Konsequenzen unseres angeborenen Dualismus.  

Ebenfalls angeboren ist uns anscheinend ein finales und teleologisches Denken. Wie das animistische und dualistische Denken, so mag auch das finale oder telelogische Denken eine Begleiterscheinung unseres intentionalistisch denkenden Gehirns sein. Kinder neigen jedenfalls dazu, allem einen Sinn oder Zweck zu unterstellen. Wenn man sie fragt, warum es Wolken gibt, antworten sie, „damit es regnet“. Wenn man sie fragt, warum es Felsen gibt, antworten sie, „damit sich Tiere daran kratzen können, wenn es sie juckt“. Und wenn man sie fragt, warum es Tiere gibt, antworten sie, „damit wir sie im Zoo beobachten können“.  

Wie wir wissen, ist das teleologische Denken keineswegs auf Kinder beschränkt. Auch Erwachsene neigen dazu, allem einen tieferen Sinn und einen letzten Zweck zu unterstellen. Ja, selbst beinharte Atheisten können sich des teleologischen Denkens nur schwer erwehren. Wenn ich eines Tages die Diagnose „Krebs“ erhalten sollte, so werde ich – wie so viele andere Menschen auch – wohl die Frage stellen: „Warum ich?“ Diese Frage ist jedoch unsinnig. Denn meine Krebserkrankung hat lediglich eine Ursache, nicht aber einen Zweck.

Auch die existenziellen Fragen, die ich eingangs erwähnte und für die Entstehung der Religion verantwortlich machen wollte, verdanken sich unserem teleologischen Denken. Wozu gibt es Alter, Krankheit und Tod sind Fragen, für die es eine kausale Erklärung, nicht aber eine teleologische Erklärung gibt. Gleiches gilt für die Frage nach dem Sinn des Lebens. Streng genommen, ist die Frage schlicht und einfach unsinnig: Warum sollte das Leben einen Sinn haben?

Nun, die Forschung zur Evolution der Religion steckt noch in ihren Kinderschuhen. Doch die Beobachtung, dass wir von Natur aus nicht nur kausal, sondern auch intentionalistisch, dualistisch und teleologisch denken, macht schon jetzt verständlich, wie religiöse Ideen entstanden sein mögen. Mehr noch: Indem die Wissenschaft zeigt, dass wir über kognitive Strukturen verfügen, die uns zu religiösen Vorstellungen verführen, wird nachvollziehbar, weshalb die überwiegende Mehrheit der Menschen einer Religion anhängt. Religiöse Vorstellungen zu haben, ist nur natürlich; religiöse Vorstellungen abgestreift zu haben, ist dagegen unnatürlich und setzt eine kritische Auseinandersetzung mit unseren angeborenen Denkgewohnheiten voraus. In diesem Sinne hat Michael Schmidt-Salomon durchaus recht, wenn er fragt: „Glaubst du noch oder denkst du schon?“

1 Kommentar:

  1. Die Mem-Theorie (Religionen als ansteckende "Viren des Geistes") scheint mir auch plausibel zu sein. Das wäre dann eine kulturelle statt biologische Erklärung. Mit biologischen Erklärungen für Religion wäre sie natürlich kompatibel.

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